Nach meiner Erinnerung kam der Begriff „systemrelevant“ in der Bankenkrise auf (2008/9), als die Banken dringend gerettet werden mussten, obwohl sie einen gehörigen Teil der Krise verursacht hatten. Aber weil sie eben „systemrelevant“ waren, oder auch „too big to fail“, mussten sie dringend gerettet werden. Auch die deutsche Automobilindustrie gilt als systemrelevant und muss gerettet werden – koste es, was es wolle, und trotz Schummelsoftware.
Schlecht bezahlte Pflegekräfte mussten zuweilen herhalten in Diskussionen, in denen es um die adäquate Bezahlung von Leistung geht, wurde aber als Argument nie so ganz ernst genommen. Hätten sie eben einen anderen Job lernen müssen, Businesskasper, z.B. Dann – in der Corona-Krise – wurde für sie applaudiert: systemrelevant! – mehr Gehalt bekommen sie aber deshalb immer noch nicht.
Immerhin kam in dieser Krise die Kultur mal zur Sprache, während sie in vergangenen Krisen völlig unbemerkt blieb, diese Schöngeist-Tunichtgut-„Gemeinde“ der Kulturschaffenden. Erstaunlich, wenn man nach einer kurzen Recherche den „Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft 2018“ entdeckt und ihn mit den Zahlen der Automobilindustrie vergleicht. Geringer Abstand im Bereich Bruttowertschöpfung – also was wird da an Geld verschoben – höhere Werte bei den Beschäftigungszahlen. (Im Jahr 2017 betrug die Bruttowertschöpfung in der deutschen Automobilindustrie rund 105,99 Milliarden, Kultur- und Kreativwirtschaft: 102,4 Mrd. €, im Durchschnitt des Jahres 2019 in der Automobilindustrie über 833.000 Beschäftigte, in der KK-Wirtschaft (2017) 903.026 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte)
Tourismus, Hotels, Restaurants sind gerade besonders gebeutelt. Wieso reist man z.B. nach Hamburg? Wegen der Elphi, König der Löwen und anderen Kultur-Sehenswürdigkeiten, nicht wegen der Autos. Ein Auto kaufen fällt auch nicht unter die Corona-Beschränkungen (hier gibt es eher Probleme mit den globalen Zulieferern und mit den Nachfragern, die ein neues Auto ja kaufen wollen müssen), ein Musical besuchen ist direkt von den Corona-Beschränkungen betroffen.
Interessant, dass das Thema „systemrelevant“ offenbar – zumindest im Ansatz – neu verhandelt wird. Vielleicht muss man selbstbewusster auftreten. Dabei ist ja das schnöde Geld – also das Bruttoinlandsprodukt, das in der Kreativwirtschaft generiert wird – Grund genug für „systemrelevant“, aber auch eben nur der schnöde Teil der Wahrheit.
Viel interessanter ist noch, was man – ungeachtet der schnöden wirtschaftlichen Relevanz – sonst noch zu bieten hat in der Kulturwirtschaft: Das Menschsein an sich erleben, Sinn zu stiften jenseits alltäglicher und biologischer Funktionsnotwendigkeiten, die menschliche Selbstbestimmung leben – ja, man kann selbstbestimmt die Elphi, oder selbst Goethe auch einfach doof finden – zweckfrei genießen, oder von Kulturwerken irritiert, provoziert und zum Nachdenken angeregt werden.
Was hätte ohne die ganze Satire, Gimmiks, Cartoons, stylisches Maskendesign, Internet-Memes, Witze über Klopapier in der Coronakrise gefehlt? Sehr viel an Bearbeitung, Bewältigung, Lebensfreude – trotz Krise – an genau dem, was das Menschsein ausmacht, das über Essen, Trinken, medizinische Versorgung und Arsch abputzen weit hinaus geht.
Das leisten Autos alles nicht. Sie bewegen mit ihrer annähernd 1 Tonne Eigen-Gewicht oft nur 100 Kilo Mensch (im Schnitt pro Fahrt 1,4 Personen), parken zu 90% die Umgebung zu und belasten das Klima. Mit der Bruttowertschöpfung können wir als Kulturschaffende gut mithalten, mit der Menschsein-Wertschöpfung der Kultur können die jedoch nicht annähernd mit uns mithalten.
Wir sind systemrelevant!
(mh)